Mit immer mehr Assistenzsystemen auf dem Holzweg?
Spurhalte-Wächter und Co. rauben so manchem Fahrer von Neuwagen den letzten Nerv. Geht es mit den wohlgemeinten Assistenzsystemen mittlerweile zu weit?
Es zupft und ruckelt am Lenkrad, und was sich da Assistent schimpft, behindert eher, als dass er hilft und schützt. Besonders Spurhalte-Wächter können den Fahrer zur Verzweiflung treiben, zumal manch einer von ihnen sich nicht mehr mit einem simplen Knopfdruck abschalten lassen kann. Bis zu sieben Schritte braucht es, um den nervigen Kerl schlafen zu legen, der vor allem in Baustellen Fahrbahnmarkierungen gerne auch mal falsch interpretiert. Wer ihn dort auszuschalten versucht, hat bei den verengten Fahrstreifen besonderen Spaß.
Denn wer bei Tempo 80 nur zwei Sekunden seine Aufmerksamkeit dem Bildschirm zuwendet, hat schon mehr als 40 Meter zurückgelegt. Beim Selbstversuch sagt die vom Beifahrer betätigte Stoppuhr, dass der Spurhaltehelfer bei manchem Auto erst nach mehr als zehn Sekunden deaktiviert werden konnte. Zu allem Überfluss meldet er sich ungefragt wieder zu Wort, wenn der Wagen neu gestartet wurde und das Verwirrspiel beginnt aufs Neue. Der Grund dafür findet sich nicht unbedingt in der immer weiter steigenden Zahl der Assistenten. Er ergibt sich aus dem modischen Gehabe der Designer und Ausstatter, die Schar der Helferlein nicht mehr über Schalter, Tasten oder Drehsteller zu bedienen, sondern eben über den Touchscreen und Menüs. Das gilt als schick und modern und schafft Ordnung auf dem Armaturenbrett. Aber führt immer wieder zu Unachtsamkeiten. Mehr als 300 Verkehrsunfälle mit Todesfolge gehen nach Beobachtungen des Allianz-Zentrums für Technik auf das Konto der Ablenkung durch die digitale Bedienung.
Die Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine wird immer komplexer
Welf Stankowitz, Referatsleiter Fahrzeugtechnik beim Deutschen Verkehrssicherheitsrat (DVR), kennt die Problematik nur zu gut: „Wir würden uns eine Vereinfachung der Bedienung wünschen, eventuell auch verpflichtende Einweisungen und Erklärungen der Assistenzsysteme bei der Übergabe eines Neuwagens.“ Denn viele Autofahrer wissen gar nicht, welche Helferschar sie da an Bord haben, geschweige denn, wie sie bedient oder ausgeschaltet wird. Die Schnittstelle zwischen dem Menschen und der Maschine gestaltet sich ob der steigenden Zahl immer diffiziler, meist aus rein ästhetischen Gründen.
Früher galt es als unschick, wenn ein Lenkrad mit Fernbedienungstasten überfrachtet war. Heute werden allenthalben die „aufgeräumten“ Schalttafeln gelobt. Dumm nur, wenn bei aller Liebe zur Ordnung am Ende sogar der Drehknopf zur Justierung der Audio-Lautstärke auf der Strecke bleibt und diese sich, wie im Golf 8 oder dem Seat Leon, nur noch über sogenannte Slider einstellen lässt. Abgesehen von der Schnelligkeit der früheren manuellen Bedienung ist diese Entwicklung nur ein weiterer Grund für die Ablenkung vom Verkehrsgeschehen.
Abgelenkter Tesla-Fahrer hat den Schaden – und einen Monat Fahrverbot
Eine ähnliche Erfahrung musste der Fahrer eines Tesla Model 3 erleben, der bei einer Tour im Regen das Intervall seiner Scheibenwischer regeln wollte. Die Funktion ist bei dieser Tesla-Baureihe nur über den Touchscreen an der Mittelkonsole möglich. Der Chauffeur ließ sich dabei im Wortsinn ablenken und steuerte das Elektroauto runter von der Fahrbahn und schnurstracks gegen einen Baum. Er kam unversehrt davon, musste aber nicht nur für den entstandenen Schaden aufkommen, sondern bekam auch ungute Nachrichten von der Behörde. Das Amtsgericht Karlsruhe urteilte, er habe mit seinem Verhalten gegen den Paragraph 23 Absatz 1a der Straßenverkehrsordnung (StVO), den sogenannten Handy-Paragraphen, verstoßen und brummte ihm zwei Punkte in Flensburg, einen Monat Fahrverbot und eine Geldbuße von 200 Euro auf.
Vor dem Oberlandesgericht Karlsruhe wurde jüngst die Revision verhandelt, die Richter bestätigten das Urteil der ersten Instanz, da während der Fahrt nur „eine kurze Blickabwendung entsprechend den Straßen-, Verkehrs-, Sicht- und Wetterverhältnissen zulässig“ sei. Diese Vorschrift gelte nicht nur für das Einschalten fest installierter Handys, sondern auch „für alle fahrzeugbezogenen Bedienungseinheiten mit Touchscreen“, hieß es in der Urteilsbegründung. Nicht nur der ADAC fordert deshalb, dass Grundfunktionen wie Scheibenwischer, Heizung oder Beleuchtung auch ohne Blickabwendung bedienbar und mindestens so einfach zu handhaben seien wie manuell erfühlbare Schalter und Tasten. Die Problematik ihrer Rechtsprechung erkannten auch die Karlsruher Richter und stellten die aktuellen Tendenzen bei der Bedienungstechnik im Auto in Frage. Der Handy-Paragraph „könnte sich als limitierender Faktor für die zunehmende, aus Sicht der Verkehrssicherheit problematische Verwendung von Touchscreens in Kraftfahrzeugbedieneinheiten erweisen“, merkte das OLG an.
Helfen Kurz-Bedienungsanleitungen?
Bahrend Wolf, Mitarbeiter beim DVR-Tochterunternehmen Fahrzeugsystemdaten GmbH, verweist unterdessen auf den Grundsatz, der auch in Zukunft für autonome Fahrten gilt: Verantwortlich ist immer der Fahrer. Dabei erkennt er außerdem die zunehmenden Schwierigkeiten einer nahezu entkoppelten Bedienung. Gerade bei einem wachsenden Car-Sharing-Markt, Auto-Abos und Kurzzeitleasing, bei denen sich Fahrer in kurzen Abständen mit teils völlig unterschiedlichen Bedienungskonzepten vertraut machen müssen, ist Gefahr in Verzug. Sein Vorschlag: Bei allen Mietfahrzeugen oder nur für einen vorübergehend kurzen Zeitraum genutzten Autos sollten knappe Bedienungsanleitungen den Umgang mit Assistenten und Infotainment schnell erklären.
Auch Sicherheitstrainings lassen sich in Hinblick auf moderne Fahrzeugtechnik modifizieren. Als vor gut zwei Jahrzehnten das Antiblockiersystem allmählich flächendeckend im Markt für Neufahrzeuge vertreten war, gab es ebenfalls solche Veränderungen in den Schulungsrichtlinien der Sicherheitstrainings. Entgegen einer früheren Empfehlung, bei dem mit Hilfe der sogenannten „Stotterbremse“ das Fahrzeug noch lenkbar bleiben sollte, hieß es fürderhin: schnell und mit maximaler Kraft auf Bremspedal treten.
Reaktionszeiten länger als nach Drogenkonsum
Die englische Organisation IAM RoadSmart hat untersucht, wie sich die Bedienung von Systemen wie Apple CarPlay oder Android Auto auf den Fahrer auswirken. Sie fand heraus, dass sich die Reaktionszeit der Fahrer bei Nutzung der Sprachsteuerung um 30 bis 36 Prozent und bei Nutzung des Touchscreens um 53 bis 57 Prozent verlängert. Im Vergleich dazu steigt nach Angaben der Autoren die Reaktionszeit unter leichtem Alkoholeinfluss nur um 12 Prozent und nach dem Konsum von Cannabis um 21 Prozent. Also lieber high als digital?
Sicher nicht, DVR-Mann Welf Stankowitz sieht dagegen den Fahrzeuglenker immer umfassenderen Pflichten ausgesetzt. Vor dem Fahrtantritt sollte sich jeder mit seinem Fahrzeug und dessen Funktionen vertraut machen. Einstellungen am Touchscreen und dem Navi sollten möglichst vor Fahrtantritt vorgenommen werden. Liefern müssen aber auch die Hersteller. Besonders die häufig genutzten Grundfunktionen sollten ohne Blickabwendung bedienbar sein und nicht in Untermenüs, die man erst umständlich auswählen muss, versteckt sein, so Stankowitz.
Vielleicht gelingt es ja sogar, durchgehend gleiche Symbole für die verschiedenen Funktionen einzuführen. Bislang kochen da manche Autobauer und Designer immer noch ihr eigenes Süppchen. Einigkeit besteht jedoch darüber, dass die Zahl der durch Assistenzsysteme verhinderten Unfälle diejenigen bei weiten übersteigt, zu denen es aufgrund von Ablenkung bei der Bedienung gekommen sei.